Dichterleben im Kollwitzkiez

Dichterleben im Kollwitzkiez

Mit „Stern 111“ gewann Lutz Seiler 2020 den Preis der Leipziger Buchmesse. Sein Roman über die Wendezeit in Prenzlauer Berg gehört zu den Besten der vergangenen Jahre.

Für gewöhnlich verlässt ein Kind irgendwann das elterliche Nest, um ein eigenes, unabhängiges Leben zu führen. Eigentlich traf das auch auf Carl zu, Hauptfigur in Lutz Seilers neuem Roman Stern111, der längst aus dem Haus in Gera ausgezogen war. Doch dann wird die Welt durchgeschüttelt, die Grenzen zwischen DDR und Bundesrepublik öffnen sich – und seine Eltern packen sofort ihre Sachen und gehen in den Westen, um sich einen lang gehegten Traum zu verwirklichen. Welcher das ist, verraten sie ihrem Sohn erst viel später und lösen damit eine existenzielle Krise bei ihm aus: Wo ist man zuhause, wenn die dazugehörigen Menschen verschwinden? Was macht man, wenn man von den Eltern verlassen wird?

Für einen Moment beschlich ihn der Verdacht, dass die Welt, der er angehörte, klammheimlich verschwunden und er einer der Übriggebliebenen war, ein Stück angefaultes Treibholz auf dem großen breiten Strom der neuen Zeit.“

Dass diese erzwungene Neuausrichtung seines Lebens ihn seinem Ziel, Schriftsteller zu werden, deutlich näher bringt, weiß er noch nicht; erstmal packt er ohne Plan seine Sachen in das alte Auto seines Vaters und fährt nach Berlin. Berlin, diese mythengesäumte Stadt, in der er in eine bunte Truppe Lebenskünstler gerät, die im Keller eines heruntergekommenen Hauses auf der Oranienburger Straße eine Kneipe namens „Assel“ einrichten und ihn in ihren Kreis aufnehmen. Wo er die Tür einer Hinterhauswohnung in der Rykestraße aufbricht, um ein Dach über dem Kopf zu haben und fortan lange Spaziergänge rund um den Wasserturm macht:

Kaum ein Abend verstrich, an dem Carl den Turm (den Wächter, wie er ihn für sich nannte) nicht wenigstens einmal umkreiste, es war seine erste Gewohnheit als Bewohner dieser Gegend. Der Wächter stand auf einem mit Büschen und Bäumen bewachsenen Hügel, darunter eine einzige Kiefer, die Carl sofort sofort ins Herz geschlossen hatte.“

Und dann ist da noch Effi, bei der Carl bereits zu Jugendzeiten in Gera schweres Herzklopfen hatte und die er nun – sie ist Künstlerin geworden – in der Acud-Galerie wieder trifft. Gemeinsam lassen sie sich durch die Subkultur und Hausbesetzerszene von Prenzlauer Berg treiben, lieben und streiten sich, Effi malt Bilder, Carl schreibt seine ersten Gedichte. Berlin ist erneut zur Projektionsfläche für bisher unterdrückte Träume geworden, der idealen Spielwiese für die ausführliche Selbstverwirklichung. Aber wie lange kann die Idylle hinter der unsanierten Fassade im ehemaligen Ost-Berlin den Zeitläuften standhalten?

Lutz Seiler hat mit dem Roman Stern111, der in diesem Frühjahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, weder Autobiographie noch Autofiktion geschrieben – und dennoch spielt seine eigene Lebensgeschichte eine wichtige Rolle in diesem Text. Wie Carl wurde auch Seiler in Gera geboren und zog nach dem Fall der Mauer nach Prenzlauer Berg, auch für den Autor lagen in der feuchten und lichtlosen Hinterhofwohnung die Anfänge seiner Laufbahn als Lyriker. Und sogar die „Assel“ in Mitte hat es tatsächlich gegeben, Seiler hat dort an der Theke gearbeitet.

Man kann den autobiographischen Hintergrund als Beweis für die Authentizität der damaligen Atmosphäre des euphorischen Aufbruchs heranziehen, doch baut der Roman seinen Charme nicht allein darauf auf: Lutz Seiler, der bereits 2014 für seinen Vorgängerroman Kruso mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, vermag es, das Heranwachsen eines jungen Mannes aus der Orientierungslosigkeit zu einem selbstbewussten Dichter so geistreich zu beschreiben, als hätte man noch nie zuvor eine Coming-of-Age-Geschichte gelesen. Es ist das Bildnis des Künstlers als jungem Mann, es sind die leisen Zwischentöne einer individuellen Suche nach Halt in einer auf links gestülpten Welt, die diesen Roman zu einem literarischen Kleinod machen.

Lutz Seiler
Stern 111
Suhrkamp Verlag, 2020
Gebunden, 528 Seiten, 24 Euro

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