Gezeiten der Stadt

Gezeiten der Stadt

Kirsty Bell hat mit „Gezeiten der Stadt“ eine Geschichte Berlins geschrieben, die ich immer und immer wieder lesen könnte.

Vielleicht liegt es daran, dass wir beide nicht in Berlin geboren wurden. Kirsty Bell wuchs in Manchester auf, ich in Köln. Sie wohnt seit über 20 Jahren hier, ich seit mittlerweile 17 Jahren. Beide mussten wir uns Berlin erst erarbeiten, erobern, erfühlen: Ich tat das anfangs mit kurzen Texten im Berlin-Logbuch. Kirsty Bell hat ein ganzes Buch daraus gemacht, es heißt „Gezeiten der Stadt. Eine Geschichte Berlins“ und hat bei mir – soviel sei gleich zu Beginn verraten – für durchgelesene Nächte gesorgt.

Alles fängt an mit einem Wasserfleck. Seit kurzem wohnt Kirsty Bell mit Mann und Kind in einer Eigentumswohnung am Landwehrkanal in Kreuzberg, vorher hatten sie jahrelang in Prenzlauer Berg gelebt, noch ist alles neu und in Bewegung. Doch der Fleck ist ein schlechtes Omen, denkt sich die Autorin. Irgendwas stimmt hier nicht. Und tatsächlich bricht kurze Zeit später das Gefüge ihres Lebens zusammen, ihr Mann zieht aus, sie bleibt mit dem Kind in der Wohnung zurück. Und beginnt damit, sich näher mit der Geschichte ihres Hauses und der Kreuzberg Umgebung auseinanderzusetzen. Wie sah es hier früher aus, wer wohnte in ihrer Wohnung? Was hat Berlin früher ausgemacht, wie lebt man hier heute?

Dinge haben einen Hang zu verschwinden in einer Stadt, die auf Sand gebaut ist. Auf Märkischem Sand, wie der in der Gegend heißt […] Berlins sandiger Untergrund, dieses weiche und durchlässige Medium, übt einen feinen Zug nach unten aus. Erklärt das die merkwürdige Lethargie, die zuweilen über der Stadt hängt? Den gemeinsamen Eindruck von Trägheit? Häufig empfinde ich hier einen gewissen Mangel an Schwung.“

Hat man vor dem Umzug nach Berlin in New York gearbeitet, wie Kirsty Bell, wo die Menschen Tag und Nacht arbeiten müssen, um sich winzige Abstellkammern leisten zu können, mag das Laissez-faire in Berlin natürlich so wirken. Dabei ist diese Stadt alles andere als lethargisch, sie ist ständig im Wandel. In wenigen Städten, vermute ich, kann man die Veränderung derart haptisch miterleben wie hier.

Kirsty Bell wandert durch ihre nähere Umgebung in Kreuzberg entlang des Landwehrkanals, sie blättert sich durch alte Zeitungen und recherchiert in Archiven, sie befragt Menschen, liest Jahrzehnte alte Bücher, assoziiert, kombiniert, träumt. Entstanden ist daraus, auch wenn es anders klingen mag, kein verwirrendes Durcheinander; Bell hangelt sich vielmehr strukturiert an der Stadtgeschichte entlang, angefangen Mitte des 19. Jahrhunderts, als Berlin sich von einem sumpfigen Dorf an einem Flüsschen namens Spree bereits auf den Weg zu einer Weltmetropole gemacht hatte. Es ist unweigerlich auch eine Annäherung an sich selbst:

„Je tiefer ich in das Gewebe dieses Ortes, dieser Ansicht, eindringe, desto unsicherer bin ich mir über mein Verhältnis dazu. Warum bin ich hier? Und wer bin ich, diese Geschichte zu erzählen? […] Trage ich eine Verantwortung für diese Vergangenheit? Eine Vergangenheit, die zu dem Haus gehört, in dem ich heute zufällig lebe? […] Ist das vielleicht die gemeinsame Verantwortung, die Berlin mit sich bringt? Hinzuschauen und nochmals hinzuschauen?“

Denn in Berlin lassen sich nicht nur die Veränderungen in Echtzeit bemerken, auch die Vergangenheit hat noch immer ein Wörtchen mitzureden. Wie viele Städte gibt es, in denen noch das Kaiserreich in den Prunkbauten zu sehen ist, die Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs in den (immer weniger werdenden) Baulücken und die Teilung der Stadt in zwei Hälften, „links“ die Bundesrepublik, „rechts“ die DDR, weswegen es so viele Einrichtungen einmal im Westen und einmal im Osten der Stadt gibt?

Wie viel von der Stadtgeschichte und den eigenen persönlichen Dramen sind in den Gemäuern gespeichert, in denen wir wohnen? Wie viel ein Haus an Energien aufnehmen und speichern kann, diese Frage schimmerte schon in dem Roman Das Gartenzimmer von Andreas Schäfer durch und auch Kirsty Bell scheint etwas in diese Richtung zu ahnen: Das Kapitel, in dem sie an einer systematischen Familienaufstellung teilnimmt und die Aufstellung für ihr Haus macht, gehört mit zu den besten und interessantesten Abschnitten des Romans. Und davon gibt es sehr viele.

Es mag der Blick von außen sein, der Kirsty Bells Buch derart lesenswert macht; ihre Neugier, die vielen Facetten der Stadt aus dem Patchworkteppich, die sie ist, zu einem bunt getupfen Ganzen zusammenzusetzen und sich dazwischen zu verorten. Berlin wird niemals in Gänze greifbar sein, wird sich niemals selbst erklären, immer verschwommen und im Wandel bleiben. „Gezeiten der Stadt“ setzt etwas Handfestes mitten hinein in diesen Trubel.

Kirsty Bell
Gezeiten der Stadt. Eine Geschichte Berlins
Kanon Verlag, 2021
320 Seiten, 28 Euro

3 thoughts on “0

  1. Bei dem Buch ist tatsächlich keine kritische Rezension möglich 🙂
    Wie Bell Ort, ihre Recherche und ihre Biografie miteinander verwebt, das ist meisterlich. Ich habe da fast schon ein Hörfunkfeature im Kopf. Das wäre ein sehr langer, sehr atmosphärischer, mehrteiliger Podcast, den ich mit größtem Vergnügen hören würde.

  2. Liebes Fräulein Schmitz, liebe Julia, bin, da seit Jahren mit einem Schreibprojekt zu Walter Benjamin und Le Corbusier >beschäftigt <, zum einen auf das Buch von Kirsty Bell und nun auch auf dein Journal gestoßen … Ja. ich lese gerade mit wachsender Begeisterung die ersten Kapitel, das Buch ist wirklich sehr gut, gefällt mir. … Werde als Wahlkölner [seit über dreißig Jahren] nun wohl noch mehr als bisher bei meinen nächsten Berlinbesuchen diverse Dinge neu sehen können …

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