Drei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer sind alle Geschichten längst erzählt? Dem ist nicht so, zeigt der exzellente neue Roman von Bastienne Voss.
Was ist eigentlich eine sozialistische Persönlichkeit? Wieso gibt es in der DDR zwar unzählige Bienen, aber kaum Honig zu kaufen? Und warum ist das Klopapier, dass man hier bekommt, so hart, dass man sich damit den Hintern wund reibt? Iris ist sechzehn Jahre alt und hat Fragen, ziemlich viele sogar. Aufgewachsen im real existierenden Sozialismus der DDR ist sie an die Verhältnisse zwar gewöhnt, doch das bedeutet ja nicht, dass man sie nicht hinterfragen darf, oder?
Vor allem seit ihr Vater sie dahingehend eingeweiht hat, dass er mitnichten im Außenhandel, sondern bei der Staatssicherheit arbeitet. Als sein Beruf ihn im Sommer 1989 nach Greifswald führt, nimmt er seine Tochter mit – ohne zu ahnen, welche Ereignisse er damit los tritt. Als Iris trotz Wind und Regen im Bodden schwimmen geht und völlig erschöpft wieder am Ufer ankommt, lernt sie Henry Weber kennen, der überraschend nach 29 Jahren von seinem Cousin Paul zu einem Besuch in Ostdeutschland eingeladen wurde. Was weder Iris noch der knapp zwanzig Jahre ältere Henry wissen: der Atomphysiker ist auch das Zielobjekt von Iris‘ Vater Leo Landowski.
Der ist, kann man sich denken, nicht gerade begeistert über die Faszination seines Sprosses am älteren Mann. Doch wo die Liebe hinfällt, da wächst kein Gras mehr und schon gar nicht dann, wenn ein frühreifer Teenager, der hinter eine Mauer lebt, etwas von der weiten Welt schmecken möchte – und das passende Gegenstück dazu längst aus seiner kinderlosen Ehe und dem trostlosen Alltag in einem Reihenhaus in Schwenningen ausbrechen möchte.

„Wenn er jetzt nichts machte, dann war er im Handumdrehen alt, weil auch Nichtstun alt machte. Aber jetzt lebte er noch. Jetzt hatte er noch eine Chance, jetzt konnte er noch mal losleben. Zwei-, dreimal hatte er die Klinke in der Hand gehabt, aber nicht den Fuß in der Tür. Zwei-, dreimal hatte er die Möglichkeit gehabt, seinem monotonen Leben etwas hinzuzufügen, eine Farbe, eine Facette, einen hellen Punkt auf Grau, und hatte die Möglichkeit vertan.“
Iris rebelliert gegen ihren Vater, obwohl sie eigentlich gar nicht rebellieren möchte, und trifft Henry in Prag – der Stadt, in der zu diesem Zeitpunkt tausende DDR-Bürger auf ihre Ausreise in die Bundesrepublik warten. Doch Iris möchte gar nicht weg aus ihrer Heimat, glaub ihrem Vater, der hartnäckig am Traum des Sozialismus festhält:

„Transparenz, Umgestaltung, das waren Parolen, Gemeinplätze, leere Worte. Wichtigtuerei, die zu nichts führte, außer vielleicht zu einem Zusammenbruch. Zum Kollaps. Zum Wegfall des Systems. Und das betrifft uns dann auch, dachte er und dachte zugleich, dass er jetzt aber zu weit ging. Es war eine Menge vorstellbar, aber nicht der totale Zusammenbruch, nicht der Wegfall des Systems.“
Nun, damit liegt Leo Landowski offenbar falsch. Als die Grenzübergänge geöffnet werden, werden alle drei Protagonisten mit dem Strudel der Ereignisse fortgerissen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
In den letzten Jahren sind unzählige Romane über die DDR und die Zeit von Friedlicher Revolution und Mauerfall, über die Nachwendejahre und die mit dem Zusammenfall des Systems verbundenen Probleme erschienen. Braucht es also noch ein weiteres Buch dazu?

Bereits auf den ersten Seiten von Grünauge sieht dich wird klar: Ja, braucht es. Bastienne Voss, 1968 in Ost-Berlin geboren, beschreibt mit einer fast schon erschreckenden Intensität die Gedanken- und Gefühlswelt der drei Protagonist*innen Iris Landowski, Leo Landowski und Henry Weber, als Leser kann man gar nicht anders, als Verständnis für alle drei aufzubringen: Für die nach Abenteuer dürstenden Iris, den frustrierten Henry und selbst für den Obrigkeitshörigen Leo, der das Schiff erst verlässt, als es längst gesunken ist.
Jeder Satz in diesem Personengefüge sitzt, hier gibt keine überflüssigen Nebenschauplätze zwecks Vertiefung der Atmosphäre – der Autorin gelingt es auch ohne sprachliche Schnörkel, die angespannte Situation im geteilten Deutschland des Spätsommers und Herbstes 1989 so zu schildern, dass man sie bildlich vor Augen hat, auch wenn man sie nicht miterlebt hat. Bastienne Voss hat dem Kanon der Literatur über diese Zeit einen Text hinzugefügt, der lange im Gedächtnis bleibt.
Bastienne Voss
Grünauge sieht dich
Picus Verlag, 2019
Gebunden, 254 Seiten, 24 Euro