Prenzlauer Berg ist nicht gerade als multikultureller melting pot bekannt und die Berührungsängste zwischen verschiedenen Kulturen groß. Maik Siegel thematisiert das in seinem Roman.
Wäret ihr bereit, eure Komfortzone zu verlassen, um einen syrischen Flüchtling in eurer Wohnung aufzunehmen? Euch mit allen Vorurteilen und Klischees von euch selbst und anderen auseinanderzusetzen?
Inga und Jan tun genau dies. Sie wohnen mitten im Stadtteil Prenzlauer Berg im Herzen von Berlin, in einem dieser typischen Mehrfamilienhäuser aus der Gründerzeit, mit hohen Decken, stuckverzierter Fassade und einem kleinen Innenhof für die Mülltonnen. Im Falle der der Hausnummer 68 steht in besagtem Innenhof außerdem eine alte Linde, die zum Mittelpunkt von Diskussionen, Streitereien, Versöhnungen und Trennungen wird.
Als Inga und Jan an einem Frühlingsabend die Bewohner des Altbaus im Hof zusammenrufen, um ihnen ihre Pläne über den neuen Mitbewohner zu eröffnen, fallen die Reaktionen verhalten und höchst unterschiedlich aus. Wie geht man mit einem jungen Mann um, der aus den Kriegswirren in Syrien geflohen ist und nun in Deutschland ein neues Leben in Frieden beginnen will? Die einen plädieren für radikale Menschlichkeit, wir sind doch alle Menschen, die anderen halten dagegen: Will der sich überhaupt unserer Kultur anpassen? Müssen die Frauen im Haus jetzt Angst haben, sich gar verschleiern? Gibt es nicht extra Flüchtlingsunterkünfte, in denen er viel besser aufgehoben wäre und zudem andere, gleichsprachige Mitmenschen hätte? Und nicht zuletzt: Ist es nicht illegal, einfach einen – wahrscheinlich ebenso illegalen – Flüchtling bei sich zuhause aufzunehmen?
In den Köpfen der Hausbewohner – alle ein bisschen schablonenhaft, aber durchaus authentisch gezeichnet – laufen die Räder heiß. Da sind James, Zabuni und Tumaini aus dem Erdgeschoss, die seinerzeit selbst ihr Land verließen, um in Berlin sesshaft zu werden und die Schwierigkeiten mit der deutschen Gesellschaft kennen. Nikola und Julia, die beiden jungen Frauen, gehen etwas lockerer mit dem Neuankömmling um, ebenso wie Alfons E. Ott, der zwar derbe Witze reißt, im Herzen aber gut ist. Auch Sven und Anne sowie der Brite William sehen sich im Laufe des Jahres immer stärker mit ihren eigenen Vorurteilen und Abneigungen konfrontiert.

„Er grüßte sie im Treppenhaus, inzwischen sogar auf Deutsch. Aber ihr war dabei nicht wohl. Jeder wusste, dass die Flüchtlinge klauten und deutsche Frauen belästigten, weil sie das ja gar nicht kannten, frei auf der Straße herumlaufende Frauen, die sich nicht verhüllen mussten“
Ute und Günther aus dem ersten Stock sind eindeutige Überbleibsel aus der Ost-Vergangenheit, in der das Spitzeln und Denunzieren zum Tagesgeschäft gehörte und Misstrauen gegenüber allem Fremden vorherrschte (Anmerkung: Das klingt hart, doch erinnerten mich die Beiden sehr stark an meine eigene Nachbarin aus dem ersten Stockund ihre Beschwerden über das unsittliche Treiben in unserem Haus und vor allem „von den Ausländern drei Treppen hoch“. Ute setzt alles daran, dem eingezogenen Samih das Leben durch Gerüchte und Intrigen schwer zu machen. Letztendlich klappt das auch und die Ereignisse im Haus überschlagen sich. Und nun? Ist das Projekt Menschlichkeit gescheitert?

Maik Siegel trifft mit Hinterhofleben den Nerv der Zeit, noch genauer gesagt: Er drückt den Finger in die Wunde, drückt ihn so richtig schön hinein, bis es blutet. Sehr oft fühlt man sich beim Lesen ertappt: Da sind die Einen, die alle Flüchtlinge ungefiltert mit offenen Armen empfangen, wir sind alle eine große Familie, Probleme wird es keine geben, stellt euch nicht so an. Und die Anderen, die sich von der eigenen Angst vor allem Fremden, vor anderen Kulturen und Sitten, derart auffressen lassen, dass nur noch der Rückzug in völlige Ablehnung und Klischees hilft.
Kann man den Menschen daraus einen Vorwurf machen? Nein, und Maik Siegel tut dies auch nicht. Jeder seine Figuren bekommt ausreichend Platz, um sich selbst mit ihren Vorurteilen zu beschäftigen, diese zunächst zu füttern um dann festzustellen, dass sie in vielen Fällen völliger Quatsch sind. Manche Reaktionen wirken dabei recht stereotyp und überzogen und beinhalten doch stets einen wahren Kern. Wer Hinterhofleben liest, wird gezwungen, sich ebenfalls mit seiner Einstellung zu geflohenen Menschen auseinanderzusetzen. Und schon allein deswegen ist dieses Buch lesenswert.
Maik Siegel
Hinterhofleben
Divan Verlag, 2017
15,90 Euro