Noch ein Roman über Berlin in den 90ern? Unbedingt – wenn es sich um Rebekka Kricheldorfs „Lustprinzip“ handelt!
Ich könnte euch jetzt erzählen, wie sehr mich dieser Roman an meine eigenen ersten Monate in Berlin erinnert. Wie ich 2005 nur eine Matratze und ein paar Taschenbücher besaß, die ich auf die weiß gestrichenen Dielen neben den Kohleofen legte, welcher in der Ecke meines 30 Quadratmeter großen WG-Zimmers in Friedrichshain stand und sich nur schlecht heizen ließ. Wie ich mein in einer Eckkneipe erkellnertes Geld in einer Bar auf der Simon-Dach-Straße vertrank, in das pinke Plastiksofa aus den 70er Jahren gefläzt – passend zu dem pinken Spitzenrock, den ich für 2 Euro bei Humana gekauft hatte und über meiner Schlaghose trug. Ich könnte.
Aber es geht es ja nicht um mich, sondern um Rebekka Kricheldorf und ihr Lustprinzip, das zwar auch in Friedrichshain spielt, aber nochmal zehn Jahre früher. Obwohl es damals offenbar nicht großartig anders aussah, als zu meiner Zeit:

„Friedrichshains Lieblingsfarbe ist grau. Die grauen Visagen verschwimmen mit dem Grau der Häuser, dem grauen Himmel und dem Grau des Asphalts. Grau auch die Träume der wenigen ansässigen Singvögel. Die Ossis (grau) schleppen sich freudlos durch den Kiez.“
In diesem trübtassigen Umfeld, das nicht nur von zerbröselnden Fassaden, sondern auch einer unfassbar großen Menge an auf dem Gehweg verteilter Hundescheiße geprägt ist, lässt sich die Ich-Erzählerin Larissa durch den Tag treiben. Oder besser: Durch die Nächte. Viel Alkohol in ranzigen Hinterhofschuppen, Drogen auch, Zigaretten sowieso und dazwischen immer wieder Männer, der Name ist meist schnell wieder vergessen. Am nächsten Morgen Kater, Laufmaschen in der Feinstrumpfhose und Telefonnummern auf dem Handrücken. Aber kaum Erinnerung. Warum scheint sie die einzige zu sein, die nicht so richtig weiß, was sie mit ihrem Leben anfangen soll?

„Überall dieser Gestaltungswille: Sogar Eric rennt mit einer Super-8-Kamera durch den Kiez und hält sich für den neuen Godard. Alle wollen Kunst machen, aber echt mal, was soll der ganze Aufriss? Die wollen doch alle nur geliebt werden, bewundert und beweihräuchtert. Anerkennung abgreifen, ihren Sexualstatus erhöhen.“
Aber muss man mit zarten 22 Jahren überhaupt schon einen glasklaren Plan haben, was man mit seinem Leben anfangen will? Muss man sich jetzt schon entscheiden, ob man ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft sein möchte oder lieber in die Alternativkultur abdriftet? Larissa scheint gefangen zwischen diesen Gegensätzen, sie steht an der Weggabelung und verfällt in eine Schockstarre. Und dann sind da auch noch Eric, der adrette Franzose mit den unleugbaren Kunstfertigkeiten in Sachen Sex und der bodenständige Surfer-Typ Mirko, der ihr eine stabile und respektvolle Beziehung anbietet. Aber wäre das nicht irgendwie langweilig?

Rebekka Kricheldorf, die zu den bekanntesten deutschen Dramatikerinnen zählt, erfindet mit ihrem Debütroman nicht das Rad neu. Sie reitet vielmehr die gleiche Welle wie Ulrich Peltzer in seinem kürzlich erschienen Buch Das bist du, wie Anna Gien und Marlene Stark in M oder das Autor*innen-Trio Heinz Bude, Bettina Munk, Karin Wieland mit ihrem Aufprall: Junge Menschen, die noch nicht lange auf eigenen Füßen stehen, die nach Berlin gekommen sind, um sich selbst zu verwirklichen. Und erstmal für eine Weile versumpfen.
Diese Ziellosigkeit einer ganzen Generation in Sätze zu gießen, die man nicht so schnell vergisst, beherrscht Kricheldorf sehr gut. Während ich den Roman las, war auch ich wieder Anfang Zwanzig und ließ mich von der Thekenkraft im punkigen „Fischladen“ anpampen, weil ich ein Getränk bestellen wollte. Das Berlin, das in Lustprinzip beschrieben wird, existiert so nicht mehr. Und wird hier für einen Moment wieder höchst lebendig.
Rebekka Kricheldorf
Lustprinzip
Rowohlt Verlag
Gebunden, 240 Seiten, 20 Euro
One thought on “0”