1931 schrieb Curt Moreck seinen Führer durch das lasterhafte Berlin, der be.bra Verlag hat ihn neu aufgelegt. Es gibt einige Ähnlichkeiten zu heute.
In Berlin kann man alles haben und sein und das zu jeder Tageszeit: Nicht erst, seit zwischen KreuzBERG und FriedrichsHAIN besagter Club mit pechschwarzem Dresscode eröffnete, ist die Stadt für ihre ausschweifende Lasterhaftigkeit bekannt. Nein, bereits in den 1920er Jahren schwang man allnächtlich die Schenkel zu sündhafter Musik, schnupfte Kokain und lebte die gleichgeschlechtliche Liebe!
Curt Moreck war damals mittendrin. Weil Berlin bereits während der Weimarer Republik nicht nur Anziehungspunkt für Freigeister jeglicher Couleur, sondern auch zahlreiche Besucher – heute nennt man sie „Party-Touristen“ – war, schrieb er 1931 seinen „Führer durch das lasterhafte Berlin“. Denn, so ist er sich sicher: Man kann zwar mithilfe eines handelsüblichen Reiseführers die Stadt erkunden, nur landet man dann in erster Linie bei den historischen Gebäuden und somit bei den „Meilensteinen der Langeweile“. Wie viel erquicklicher ist es doch, eine Stadt über ihr Nachtleben kennenzulernen!
Moreck legt also los und arbeitet sich zunächst durch die „Zentren des Amüsierbetriebs“ von der Friedrichstraße bis zum Kurfürstendamm vor. Beide Straßenzüge kommen mir heutzutage eher nicht in den Sinn, denke ich an das Berliner Nachtleben; doch die Ähnlichkeit zu heutigen Lokalitäten ist frappierend:

„Will man sich nach Montmartre träumen, lässt man sich in dem kleinen Separee auf künstlich-schließigen Polsterbänkche unter dem Plakat Toulouse-Lautrecs und zwischen den heiter hingehauenen Klecksereien anonymer Genies nieder, wo ein Grammophon ältesten Systems abgegriffene Schlager durch seinen Blechtrichter leiert. Schäbigkeit ist hier zum System erhoben und buhlt raffiniert um Wirkung.“
Sind die wichtigsten Treffpunkte der Berliner Bohème abgearbeitet, geht Moreck zu einer zeitlichen Schilderung eines typischen Abends über: Man geht zum Fünf-Uhr-Tee mit Tanz, trifft sich zum tête á tête in einer der Mokka-Dielen, futtert sich durch die internationale Küche, kokettiert in einem der Lokale für Homosexuelle und Transvestiten oder wagt einen nervenkitzeligen Blick in die Kaschemmen, die den Eingang zur Unterwelt bilden. In einer Kneipe wird man sogar behandelt wie ein Schwerverbrecher und bekommt sein Essen im Blechnapf vorgesetzt!
Bei aller Liebe zu seiner Stadt, kann sich Curt Moreck ein paar süffisante Bemerkungen über das vorgeblich kosmopolitische Gehabe Berlins nicht verkneifen:

„Man möchte gern international tun, aber man bringt es doch im Kern über das Berlinische nicht ganz hinaus, und das ist vielleicht gerade das Originelle daran, dieser berlinische Internationalismus, diese lokale Note im kosmpolitischen Getue, das ja auch im Publikum und in seinen Allüren vorherrscht.“

1931 war der ungewöhnliche Reiseführer von Curt Moreck erschienen, war dann aufgrund der politischen Wirren und der eher gesetzten Nachkriegsgesellschaft in Vergessenheit geraten. Die Neuauflage aus den 80ern sowie den 90ern ist mitterweile nur noch antiquarisch zu horrenden Preisen zu erwerben – wie wundervoll ist es da, dass der be.bra Verlag sich den Text noch einmal geschnappt hat!
Durchsetzt ist er diesmal von Fotografien aus den erwähnten Lokalen (in der Erstauflage findet man Zeichnungen von Jeanne Mammen), so dass man die damalige Stimmung gut nachvollziehen kann. Und letztendlich unterscheidet sich das Treiben – sieht man einmal von den eindeutig seltener sichtbaren Bubiköpfen und Seidenstrümpfen ab – im Berlin der 1920er gar nicht so sehr von den heutigen Feierlichkeiten…
Curt Moreck
Ein Führer durch das lasterhafte Berlin. Das Deutsche Babylon 1931
be.bra Verlag
Gebunden, 208 Seiten, 22 Euro